Immobilienbewertung in angespannten Märkten: So funktioniert die Preisdynamik und wie du Risikopuffer richtig einsetzt

Ein Haus oder eine Wohnung in München, Berlin oder Frankfurt zu bewerten, ist heute nicht mehr wie vor zehn Jahren. Die Preise schießen in die Höhe, die Nachfrage übertrifft das Angebot bei Weitem, und die Gesetze greifen immer stärker ein. Was früher mit drei einfachen Verfahren ging - Vergleichswert, Ertragswert, Sachwert -, ist heute ein komplexes Puzzle mit vielen unbekannten Teilen. In angespannten Märkten ist die Immobilienbewertung nicht mehr nur eine Rechnung. Sie ist eine Prognose mit Risiko. Und wer das nicht versteht, überschätzt den Wert - oder unterschätzt ihn - und riskiert teure Fehler.

Was macht einen Markt eigentlich zu einem angespannten Markt?

Nicht jede Stadt, in der die Preise steigen, ist automatisch ein angespannter Markt. Die deutsche Gesetzgebung definiert das genau. Ein angespannter Wohnungsmarkt liegt vor, wenn drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind: Erstens, es gibt mindestens 10 Prozent weniger Wohnungen als benötigt. Zweitens, die Leerstandsquote liegt unter 1,5 Prozent. Drittens, die Mieten sind in drei Jahren um mindestens 10 Prozent gestiegen. Das ist kein Zufall, das ist eine offizielle Messlatte - und sie gilt seit 2015, seitdem die Mietpreisbremse eingeführt wurde.

Was das bedeutet? In Berlin, München oder Hamburg ist es fast unmöglich, eine Wohnung zu finden, die nicht bereits vermietet ist. Die Nachfrage ist riesig, das Angebot knapp. In Brandenburg oder Teilen von Sachsen-Anhalt hingegen gibt es viele leere Wohnungen - dort gibt es keinen angespannten Markt. Und das macht einen riesigen Unterschied bei der Bewertung.

Warum die klassischen Bewertungsverfahren versagen

Die Immobilienwertermittlungsverordnung (ImmoWertV) kennt drei Methoden: Vergleichswertverfahren, Ertragswertverfahren und Sachwertverfahren. In ruhigen Märkten funktionieren sie gut. In angespannten Märkten nicht mehr.

Beim Vergleichswertverfahren schaust du dir vergleichbare Verkäufe an - eine Wohnung mit drei Zimmern, ebenerdig, in der gleichen Straße, verkauft vor drei Monaten. Aber was, wenn es in deiner Straße seit sechs Monaten keinen Verkauf mehr gab? Oder wenn alle Verkäufe aus dem Jahr 2021 stammen, und seitdem die Preise monatlich um 0,8 Prozent gestiegen sind? Dann ist der Vergleichswert veraltet. In Ballungsräumen fehlen bis zu 35 Prozent der benötigten Vergleichsobjekte. Gutachter müssen dann auf hypothetische Werte zurückgreifen - und das macht die Bewertung unsicher. Bis zu 15 Prozentpunkte mehr Unsicherheit sind möglich.

Beim Ertragswertverfahren wird der Wert anhand der Miete berechnet. Normalerweise multiplizierst du die Netto-Kaltmiete mit einem Faktor zwischen 15 und 23. Aber in angespannten Märkten gilt die Mietpreisbremse. Die Miete darf nicht über einer bestimmten Obergrenze liegen - selbst wenn der Markt eine höhere Miete zulassen würde. Das heißt: Der tatsächliche Ertrag ist künstlich gedrückt. Die Berechnung wird damit ungenau. In München oder Köln müssen Gutachter den Faktor um bis zu 25 Prozent reduzieren, sonst kommt ein zu hoher Wert raus - und das kann teuer werden, wenn die Bank den Kredit auf Basis dieser Bewertung gewährt.

Beim Sachwertverfahren rechnest du den Wert der Immobilie aus - Baukosten, Alter, Zustand. Aber hier passiert das Seltsame: In angespannten Märkten werden Immobilien oft 20 Prozent oder mehr über dem Sachwert verkauft. In Hamburg-Niendorf liegt der Verkaufspreis durchschnittlich 22 Prozent über dem rechnerischen Wert. Warum? Weil die Leute nicht für den Beton kaufen, sondern für die Lage, die Perspektive, die Zukunft. Der Sachwert sagt nichts über die Nachfrage aus - und das ist in angespannten Märkten das Wichtigste.

Die Preisdynamik ist nicht linear - und das zerstört alte Modelle

Klassische Modelle gehen davon aus: Die Preise steigen gleichmäßig. 5 Prozent pro Jahr. Aber das stimmt nicht mehr. In den sieben größten deutschen Städten mit angespannten Märkten stiegen die Preise zwischen 2015 und 2022 exponentiell: Von 4,2 Prozent jährlich (2015-2017) auf 8,7 Prozent (2018-2020) und dann auf 12,3 Prozent (2021-2022). Das ist kein gerader Strich. Das ist eine Kurve, die nach oben schießt.

Das Vergleichswertverfahren prognostizierte für denselben Zeitraum nur 5,8 Prozent Steigerung. Warum? Weil es auf vergangenen Daten basiert - nicht auf der aktuellen Realität. Die Modelle reagieren zu langsam. Sie sehen die Explosion nicht kommen. Und das führt zu massiven Fehlern. Eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zeigt: In angespannten Märkten überschätzen klassische Bewertungen den Wert von Wohnungen durchschnittlich um 18,7 Prozent. Das ist kein kleiner Fehler. Das ist ein Risiko, das Banken, Käufer und Verkäufer in große Schwierigkeiten bringt.

Drei veraltete Bewertungsmethoden, die unter einer explosiven Preiskurve zusammenbrechen.

Wie du Risikopuffer richtig einsetzt

Was tun? Du kannst nicht einfach die alten Methoden weiter nutzen. Du musst sie anpassen. Drei Praxisansätze haben sich als wirksam erwiesen.

Erstens: Dynamische Korrekturfaktoren. Der Gutachterausschuss in Nordrhein-Westfalen hat einen Score entwickelt, der den Grad der Marktspannung misst. Je höher der Score - je leerer die Wohnungen, je schneller die Preise steigen - desto höher der Aufschlag auf den Grundstückswert. Er reicht von 5 bis 20 Prozent. Das ist kein willkürlicher Wert. Das ist eine Reaktion auf echte Daten.

Zweitens: Szenarioanalysen. Mach nicht nur eine Bewertung. Mach drei. Ein optimistisches Szenario: Die Preise steigen weiter. Ein realistisches: Sie stabilisieren sich. Ein pessimistisches: Die Zinsen steigen, die Nachfrage sinkt, die Mietpreisbremse wird strenger. Dann zeigst du dem Kunden: Hier ist der Wert, wenn alles gut läuft. Hier ist der Wert, wenn alles normal bleibt. Und hier ist der Wert, wenn alles schiefgeht. Das gibt Sicherheit - und schützt vor Überraschungen.

Drittens: Zeitraumkorrekturen. Wenn du einen Verkauf aus dem Jahr 2023 als Vergleich nimmst, aber der Markt sich seitdem monatlich um 0,78 Prozent verteuert hat (wie in Berlin 2022), dann musst du diesen Verkauf nach oben korrigieren. Nicht mit Schätzung. Mit Faktor. Jeder Monat, der vergangen ist, wird addiert. In Berlin wurde das genau berechnet. In anderen Städten tun es Gutachter jetzt auch. Es ist aufwendig - aber notwendig.

Was passiert, wenn du nichts tust?

Ein Gutachter aus Berlin berichtet: „Ich musste bei einer Wohnung in Friedrichshain den Vergleichswert um 22 Prozent nach oben korrigieren. Alle vergleichbaren Verkäufe lagen sechs Monate zurück. Der Markt hat sich monatlich um 1 Prozent verteuert. Die Bank hat das nicht akzeptiert. Es gab Diskussionen. Monate.“

Ein Investor aus München kaufte 2021 eine Wohnung, die nach Sachwert 650.000 Euro wert war. Er zahlte 820.000 Euro. Heute, nach Zinssteigerungen, ist sie nur noch 710.000 Euro wert. Der Sachwert ist gleich geblieben. Aber der Markt hat sich verändert. Wer damals nur auf den Sachwert geschaut hat, hätte den Kauf nie gemacht. Wer nur auf den Marktpreis geschaut hat, hat jetzt Verluste.

Die Deutsche Gesellschaft für Immobilienwirtschaft (DEGIV) hat berechnet: Die Bewertung in angespannten Märkten braucht 40 Prozent mehr Zeit. Warum? Weil du nicht nur den Zustand der Immobilie prüfst, sondern auch Mietspiegel, Bebauungspläne, Demografieprognosen, Zinsentwicklungen, Kapitalflüsse. Du musst den Markt verstehen - nicht nur die Zahlen.

Berlin-Apartment mit zersplittertem Fenster, Preise als Luftballons und zukünftiger Preisverfall.

Die Zukunft: Machine Learning und neue Gesetze

Im Februar 2023 hat der Deutsche Gutachterausschuss ein neues Methodenpapier veröffentlicht: Machine Learning soll helfen, Bewertungsfaktoren dynamisch anzupassen. Algorithmen lernen aus tausenden Transaktionen, erkennen Muster, passen sich an. Das ist kein Science-Fiction. Das ist schon in einigen Büros Realität.

Auch die Gesetze ändern sich. Ab 2024 soll die ImmoWertV geändert werden. Dann müssen alle drei Bewertungsverfahren explizit die Marktspannung berücksichtigen. Das ist ein großer Schritt. Bisher war es freiwillig. Bald wird es Pflicht.

Aber Experten warnen: Die aktuellen Risikopuffer sind noch nicht genau genug. Sie rechnen mit Mietpreisen, aber nicht mit Zinsen. Sie schauen auf Leerstände, aber nicht auf Kapitalflüsse aus dem Ausland. Prof. Dr. Andreas Pfnür von der TU München sagt: „Wir brauchen eine stärkere Integration von Finanzmarktindikatoren.“

Und dann gibt es noch die Prognose: Bis 2025 könnte in 60 Prozent der heute als angespannt geltenden Märkte die Schwellenquote unterschritten werden. Die Preise fallen. Die Mietpreisbremse wird abgeschafft. Die Immobilienwerte korrigieren sich - um 15 bis 20 Prozent. Wer heute mit einem zu hohen Wert kauft, wird später verlieren.

Was du jetzt tun kannst

Wenn du eine Immobilie bewerten lässt: Frag nach den Risikopuffern. Frag, ob Szenarioanalysen gemacht wurden. Frag, ob Zeitraumkorrekturen angewendet wurden. Frag, ob der Gutachter die aktuelle Marktspannung berücksichtigt hat - nicht nur die Zahlen vom letzten Jahr.

Wenn du verkaufst: Lass dich nicht von einem hohen Gutachten blenden. Prüfe, ob es realistisch ist. Wenn der Wert 30 Prozent über dem Sachwert liegt, und du bist nicht in München oder Berlin - dann ist Vorsicht angebracht.

Wenn du kaufst: Denk nicht nur an die Miete. Denk an die Zinsen. Denk an die Zukunft. Ein Haus, das heute 800.000 Euro kostet, kann morgen 650.000 Euro wert sein - wenn die Nachfrage sinkt. Die Immobilie bleibt gleich. Der Markt ändert sich.

Die Zeit der einfachen Bewertungen ist vorbei. Wer heute noch glaubt, drei Zahlen reichen, um eine Immobilie richtig zu bewerten, handelt nicht professionell. Er handelt riskant. In angespannten Märkten ist die Bewertung kein Werkzeug - sie ist eine Strategie. Und die Strategie muss mit dem Markt wachsen.