Abweichungen und Befreiungen vom Bebauungsplan beantragen: So funktioniert’s in der Praxis

Wenn du ein Haus bauen oder umbauen willst, aber der Bebauungsplan dir im Weg steht, bist du nicht allein. Viele Bauherren stoßen auf Situationen, in denen die festgelegten Regeln - etwa zur Gebäudehöhe, Abstand zum Nachbarn oder der zulässigen Nutzungsart - einfach nicht mehr passen. Das kann an einem engen Grundstück liegen, an einer historischen Bausubstanz oder an einem plötzlichen Bedarf, wie der Unterbringung von Flüchtlingen. In solchen Fällen gibt es einen rechtlichen Ausweg: Abweichungen und Befreiungen vom Bebauungsplan. Aber wie funktioniert das wirklich? Und was musst du tun, damit dein Antrag nicht abgelehnt wird?

Was ist der Unterschied zwischen Abweichung, Befreiung und Ausnahme?

Viele verwechseln die Begriffe, aber sie sind rechtlich klar getrennt. Das ist entscheidend, denn je nachdem, welcher Fall vorliegt, musst du andere Gesetze zitieren und andere Unterlagen einreichen.

  • Ausnahme: Das ist die einfachste Variante. Sie steht bereits im Bebauungsplan. Wenn der Plan etwa sagt: „Bei genehmigtem Anbau ist eine Abweichung von 0,5 m zur Grundstücksgrenze zulässig“, dann kannst du das einfach nutzen. Du brauchst keinen extra Antrag - du musst nur nachweisen, dass deine Baupläne genau in diese vorhergesehene Ausnahme passen.
  • Befreiung: Das ist das, was die meisten meinen, wenn sie von „Ausnahmen“ sprechen. Hier geht es um eine Einzelfallprüfung nach §31 Abs. 2 BauGB. Du musst zeigen, dass deine Baumaßnahme trotz Abweichung von den Festsetzungen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist und die Grundzüge der Planung nicht berührt. Das ist kein Recht - es ist ein Ermessen der Behörde. Und das bedeutet: Auch wenn du alle Voraussetzungen erfüllst, kann die Stadt den Antrag trotzdem ablehnen.
  • Abweichung: Dieser Begriff bezieht sich auf die Landesbauordnung, nicht auf den Bebauungsplan. Wenn du zum Beispiel eine Abstandsfläche nicht einhalten kannst, weil dein Grundstück zu klein ist, dann beantragst du eine Abweichung nach §66 der Niedersächsischen Bauordnung (NBauO) oder der entsprechenden Landesbauordnung. Hier geht es um bautechnische Vorschriften, nicht um die städtebauliche Planung.

Ein Beispiel: Du willst in einem Wohngebiet ein Dachgeschoss ausbauen, aber der Bebauungsplan schreibt eine maximale Gebäudehöhe von 8 Metern vor. Dein Haus ist jetzt 7,6 Meter hoch - du willst also nur 40 cm mehr. Das ist eine Befreiung vom Bebauungsplan. Wenn du aber den Abstand zum Nachbarn um 30 cm verringern willst, weil die Wand sonst nicht mehr tragfähig wäre, dann brauchst du eine Abweichung von der Bauordnung.

Wann bekommst du eine Befreiung?

Die Gesetze sagen klar: Eine Befreiung ist nur zulässig, wenn drei Bedingungen erfüllt sind - und du musst alle drei nachweisen.

  1. Gründe des Wohls der Allgemeinheit: Das ist der wichtigste Punkt. Dazu zählen zum Beispiel der dringende Bedarf an Wohnraum, besonders für Flüchtlinge oder sozial Schwache. Auch die Sanierung von Altgebäuden in Innenstädten, die sonst verfallen würden, kann hierher gehören. Die Stadt Greifswald hat in den letzten Jahren viele Befreiungen für Flüchtlingsunterkünfte erteilt - weil der öffentliche Bedarf eindeutig war.
  2. Städtebauliche Vertretbarkeit: Dein Bauvorhaben darf das Bild des Viertels nicht zerstören. Wenn du in einer Reihenhaussiedlung ein sechsgeschossiges Gebäude bauen willst, ist das nicht vertretbar - selbst wenn du die Nachbarn überzeugst. Aber wenn du in einem historischen Viertel ein altes Haus sanierst und dabei leicht über die Höhenbegrenzung gehst, um die Dachform zu erhalten, dann ist das oft akzeptabel.
  3. Unbeabsichtigte Härte: Das ist der häufigste Grund für erfolgreiche Anträge. Du musst zeigen: Wenn ich die Vorschrift strikt einhalte, dann wird mein Projekt wirtschaftlich unmöglich oder physisch nicht realisierbar. Beispiel: Ein Haus aus den 1950er-Jahren hat nur 1,20 Meter Abstand zum Nachbarn. Du willst die Fassade sanieren, aber die Bauordnung schreibt 1,50 Meter vor. Wenn du die Wand jetzt um 30 cm zurückziehst, bricht die Dachkonstruktion zusammen. Dann ist das eine unbeabsichtigte Härte - und du hast eine gute Chance auf Befreiung.

Ein besonderer Fall ist §31 Abs. 3 BauGB: Seit 2021 können Gemeinden Befreiungen für den Wohnungsbau erteilen, wenn sie den dringenden Bedarf an Wohnraum anerkennen. Das ist ein wichtiger Neuerung - viele Städte nutzen das jetzt gezielt, um mehr Wohnungen zu bauen. Aber: Auch hier gilt - keine Garantie. Die Behörde entscheidet nach Ermessen.

Was brauchst du für den Antrag?

Ein Antrag ist kein Formular, das du schnell ausfüllst. Es ist ein juristisches Dokument, das deine Argumentation klar, präzise und beweisbar darlegt. Die Behörde prüft nicht nur deine Pläne - sie prüft deine Logik.

  • Schriftlicher Antrag: Formulare gibt es in den meisten Städten online - zum Beispiel das BAB 10 in Hessen. Aber der Text darin ist nur der Rahmen. Der entscheidende Teil ist die Begründung.
  • Begründung nach §31 BauGB oder §66 NBauO: Hier musst du konkret auf die drei Kriterien eingehen. Nicht: „Ich brauche mehr Platz.“ Sondern: „Die Einhaltung der 1,50-Meter-Abstandsregel führt zu einer unzumutbaren Verkleinerung der Wohnfläche von 120 auf 85 Quadratmeter. Die Sanierung wäre wirtschaftlich nicht mehr tragbar. Die Grundzüge der Planung - ruhige Wohnnutzung - bleiben erhalten.“
  • Bauvorlagen: Das sind nicht nur Grundrisse. Du brauchst: Lageplan, Grundriss, Schnitte, Ansichten, Fotos der bestehenden Nachbargebäude, eine formlose Bau- und Nutzungsbeschreibung mit Gebäudeklasse, Abstandsflächennachweis, Stellplatznachweis. Alles muss genau sein. Eine ungenaue Zeichnung reicht nicht.
  • Gutachten: Bei komplexen Fällen - besonders bei Abstandsfragen oder städtebaulichen Auswirkungen - lohnt sich ein Gutachten von einem Sachverständigen. Die Behörde vertraut oft mehr einem Expertenbericht als deiner Aussage.

Ein Beispiel aus Frankfurt: Ein Bauherr wollte ein Altgebäude sanieren, aber die vorgeschriebene Geschosshöhe ließ keine nutzbare Wohnung mehr zu. Mit einem statischen Gutachten und einer detaillierten Darstellung der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit wurde die Befreiung für einen zusätzlichen Geschossaufbau genehmigt - ohne die Nachbarn zu beeinträchtigen.

Wasserfarbillustration mit drei rechtlichen Begriffen als Symbole über einer Stadtansicht, symbolisierend Ausnahme, Befreiung und Abweichung.

Wie lange dauert es und was kostet es?

Die Bearbeitungszeit liegt zwischen vier und zwölf Wochen. In kleinen Gemeinden geht es schneller, in Großstädten mit hohem Aufkommen oft länger. Wenn du alle Unterlagen vollständig einreichst, sparst du wertvolle Zeit. Viele Anträge scheitern nur, weil Dokumente fehlen - und dann muss alles von vorne geprüft werden.

Die Gebühren variieren je nach Kommune. In Linz oder Wien liegt der Bereich typischerweise zwischen 50 und 500 Euro. Die Höhe richtet sich nach dem Umfang des Antrags - eine einfache Abweichung kostet weniger als eine komplexe Befreiung mit Gutachten. Die Gebührenordnung findest du auf der Website deiner Stadt - meist unter „Bauverwaltung“ oder „Gebühren“.

Warum scheitern die meisten Anträge?

Die häufigsten Gründe für Ablehnungen sind nicht technisch, sondern strategisch.

  • Die Grundzüge der Planung werden berührt: Das ist der größte Fehler. Wenn du in einem reinen Wohngebiet ein Gewerbegebäude bauen willst, ist das keine Befreiung - das ist ein Planänderungsverfahren. Und das dauert Jahre.
  • Keine konkrete Begründung: „Ich brauche mehr Platz“ reicht nicht. Du musst zeigen: Warum kann ich es nicht anders machen? Welche wirtschaftlichen, baulichen oder sozialen Konsequenzen hat die strikte Einhaltung?
  • Nachbarliche Einwände: Die Behörde muss die Nachbarn anhören. Wenn sie schriftlich Einwände erheben - etwa wegen Schattenwurf, Lärm oder Verlust von Licht - und du nicht darauf reagierst, ist die Ablehnung fast sicher. Sprich deine Nachbarn vorher an. Zeige ihnen deine Pläne. Biete Lösungen an. Das erhöht deine Chancen enorm.

Ein Fall aus der Praxis: Ein Antrag in einer Kleinstadt wurde abgelehnt, weil der Antragsteller die Abstandsflächen um 20 cm reduzieren wollte - aber keine Fotos der Nachbarhäuser beigefügt hatte. Die Behörde konnte nicht prüfen, ob die Schattenwirkung wirklich unbedeutend war. Ein zweiter Antrag mit Fotos, Schattenberechnungen und einem Brief des Nachbarn, der zustimmte, wurde innerhalb von drei Wochen genehmigt.

Hand legt ein Hausmodell auf eine Zonierungskarte, während rechtliche Texte darüber schweben, dargestellt als konzeptuelle digitale Malerei.

Was kannst du tun, wenn dein Antrag abgelehnt wird?

Ein Ablehnungsbescheid ist nicht das Ende. Du kannst Widerspruch einlegen - und zwar innerhalb eines Monats. Aber: Mach das nicht ohne rechtliche Beratung. Ein Anwalt für Bau- und Architektenrecht kann dir zeigen, ob die Ablehnung rechtlich haltbar ist. Oft liegt der Fehler nicht im Gesetz, sondern in der Begründung der Behörde.

Manchmal hilft auch ein Gespräch mit dem zuständigen Sachbearbeiter. Frag nach: „Was genau fehlt? Welche Unterlagen oder Argumente würden den Antrag überzeugen?“ Die meisten Behörden sind offen für konstruktive Gespräche - solange du nicht drohst oder dich beschwerst.

Was ändert sich aktuell?

Seit der Baurechtsnovelle vom Dezember 2021 gibt es eine klare Tendenz: Befreiungen für den Wohnungsbau werden einfacher. Die Bundesregierung will mehr Wohnungen - und Befreiungen sind ein schneller Weg als eine Neuaufstellung des Bebauungsplans. Viele Städte, auch in Oberösterreich, nutzen das jetzt gezielt. Aber: Es gibt auch Kritik. Fachleute warnen, dass zu viele Befreiungen die Planungssicherheit untergraben. Wer heute eine Befreiung bekommt, könnte morgen die Nachbarn behindern - wenn die Stadt später eine neue Regelung erlässt.

Die Digitalisierung hilft: In Nordrhein-Westfalen kannst du deine Unterlagen jetzt online einreichen. In Linz ist das noch nicht der Fall - aber es kommt. Mach dich darauf gefasst, dass in Zukunft alle Unterlagen digital bereitgestellt werden müssen - PDFs, klare Dateinamen, keine Scan-Abzüge.

Was ist der nächste Schritt?

Wenn du einen Antrag in Erwägung ziehst, mach das nicht allein. Gehe zuerst zur Bauverwaltung deiner Stadt - in Linz ist das das Magistrat, Abteilung Bauamt. Frag nach: „Gibt es in meinem Gebiet bereits ähnliche Befreiungen?“ Zeig deine Pläne. Lass dich beraten. Oft kannst du schon vor dem Antrag einen Termin mit dem Sachbearbeiter vereinbaren - das spart Zeit und vermeidet Fehler.

Und: Sammle Beweise. Fotos, Gutachten, Briefe von Nachbarn, wirtschaftliche Berechnungen. Je konkreter du bist, desto besser. Eine Befreiung ist kein Geschenk - sie ist ein juristischer Kompromiss. Und wie jeder Kompromiss: Er funktioniert nur, wenn beide Seiten etwas gewinnen.

Kann ich eine Befreiung vom Bebauungsplan ohne Anwalt beantragen?

Ja, du kannst einen Antrag ohne Anwalt stellen. Viele Bauherren tun das. Aber die Erfolgsquote steigt deutlich, wenn du professionelle Unterstützung hast - besonders bei komplexen Fällen. Ein Anwalt oder ein Architekt mit Baurechtserfahrung weiß, wie du die Begründung formulieren musst, damit die Behörde sie akzeptiert. Ohne Expertise scheitern viele Anträge an Formulierungen, die juristisch ungenau sind.

Wie oft werden Befreiungen genehmigt?

Es gibt keine bundesweite Statistik, aber in Städten wie Frankfurt, Berlin oder Linz werden etwa 30-50 % der Befreiungsanträge genehmigt. Die Quote hängt stark vom Grund ab: Bei Wohnungsbau und Flüchtlingsunterkünften liegt sie oft über 60 %. Bei reinen privaten Interessen - wie einem größeren Gartenhaus - sinkt sie auf unter 20 %. Die Qualität der Begründung ist entscheidend.

Gibt es Zeiten, in denen Befreiungen leichter zu bekommen sind?

Ja. Seit 2021 ist die gesetzliche Grundlage für Befreiungen im Wohnungsbau deutlich erleichtert worden. Städte mit Wohnungsnot - wie Linz, Wien oder Salzburg - nutzen das aktiv. Auch in Zeiten hoher Baupreise oder nach Naturkatastrophen werden Befreiungen oft flexibler gehandhabt. Wenn du einen dringenden Wohnbedarf hast, ist das der beste Zeitpunkt, um zu beantragen.

Was passiert, wenn ich ohne Befreiung baue?

Du riskierst eine Baustilllegung, eine Geldstrafe oder sogar die Rückbauverpflichtung. Die Behörde kann den Bau stoppen - und dich zwingen, alles wieder abzubauen. Das kostet mehr als jede Befreiung. Auch wenn du denkst, „keiner wird es merken“: Nachbarn melden oft an, und die Behörde prüft regelmäßig. Ein illegaler Bau bleibt ein Risiko für deine Eigentumsrechte - und kann später den Verkauf des Hauses unmöglich machen.

Kann ich eine Befreiung auch für einen Anbau beantragen?

Ja, das ist einer der häufigsten Anwendungsfälle. Ob du einen Dachaufbau, einen Erker oder einen Anbau an der Rückseite willst - wenn er gegen die Abstands- oder Höhenregeln verstößt, kannst du eine Befreiung beantragen. Wichtig ist: Du musst zeigen, dass der Anbau die städtebauliche Gesamtgestaltung nicht beeinträchtigt und dass du keine andere Lösung hast. Oft hilft hier ein guter Entwurf mit Licht- und Schattenberechnungen.